Es ist nur eine von 16 Stationen an der Via Sacra, der Touristenroute, die rund 550 Kilometer durch das Länderdreieck Deutschland, Polen und Tschechien führt – aber eine, deren Bekanntheit in keinem Verhältnis zur geringen Einwohnerzahl steht: Herrnhut hat sich durch die Herrnhuter Sterne weltweit einen Namen gemacht. Fast jeder kennt die geometrische Weihnachtsdeko, die den Stern von Bethlehem symbolisiert. Vor 300 Jahren wurde das Städtchen von Glaubensflüchtlingen gegründet.
Die Stadt ist Ursprungsort der weltweit verbreiteten Herrnhuter Brüdergemeine (ohne „d“!), einer formell überkonfessionellen, aber stark evangelisch geprägten Gemeinschaft. Sie feiert in diesem Jahr ihr 300. Gründungsjubiläum: mit einer Sonderausstellung und einer Festwoche vom 11. bis 19. Juni. Beim Eröffnungsgottesdienst am Sonntag kommt gleich die jüngst geweihte Orgel im Kirchensaal der Brüdergemeine zum Einsatz.
Der offizielle Festakt zur Ortsgründung wird im Kirchgarten vollzogen. Hier fällte am 17. Juni 1722 der aus Mähren stammende Zimmermann Christian David den ersten Baum, um Platz für die Errichtung einer neuen Ansiedlung zu schaffen. Das dafür nötige Land hatte Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700 bis 1760) den religiös verfolgten „Böhmischen Brüdern“ zur Verfügung gestellt.
Herrnhut nannten sie ihre Siedlung – weil sie den Ort und seine Bewohner unter die „Obhut des Herrn Jesus“ stellten. Die Gründung sprach sich herum und zog alsbald weitere Zufluchtsuchende in die Oberlausitz bei Görlitz, die sich hier ansiedelten. Bei einer Abendmahlsfeier am 13. August 1727 in der lutherischen Kirche im benachbarten Berthelsdorf riefen die Böhmischen Brüder die Herrnhuter Brüdergemeine ins Leben, auch Brüder-Unität genannt.
Wer nun stets von „Brüdern“ hört, könnte versucht sein zu denken, dass Frauen in der Gemeine eine untergeordnete Rolle spielten. Das Gegenteil ist der Fall! „Zinzendorf, ein Jurist, der später Theologie studierte und sogar Bischof wurde, hat von Anfang an Frauen und Männer gleichgestellt. Beide Geschlechter konnten als Gemeinhelfer und Gemeinhelferinnen mit allen Rechten ordiniert werden“, betont Thomas Przylus, Leiter des Herrnhuter Gäste- und Tagungshauses.
„Eine Rolle rückwärts“
Später habe es „eine Rolle rückwärts gegeben“, sodass dann im Kirchensaal Männer und Frauen getrennt saßen – und bei den Frauen sogar unterschieden wurde, ob sie verheiratet oder ledig waren. „Mit dieser Geschlechtertrennung ist es seit dem Zweiten Weltkrieg vorbei“, sagt Przylus. „Eine Ausnahme macht der Gottesacker, wo nur Herrnhuter beerdigt werden. Dort ruhen Männer und Frauen getrennt in schlichten, identischen Gräbern. Bisher haben die Herrnhuter solches als historische Tatsache akzeptiert.“
Während der Festwoche erinnert am 19. Juni ein ökumenischer Gottesdienst daran, dass in Herrnhut von Anfang an alle Glaubensrichtungen toleriert wurden. Die Brüder sollten täglich in der Bibel lesen und viel singen. Zitzendorf vertrat die Ansicht, dass auch Alltagstätigkeiten religiöse Handlungen seien. Gerade das Singen steht weiterhin hoch im Kurs – wahrscheinlich auch beim Festumzug, dem Schlussakkord der Festwoche. 1727 erschien in Herrnhut das erste Gemeindegesangbuch mit 972 Liedern.
„Wir Brüder sind inzwischen eine Minderheit in Herrnhut und stellen nur noch ein Drittel der Bevölkerung. Also machen wir ein Fest von Bürgern für die Bürger“, sagt Gästehausleiter Thomas Przylus. „Ich freue mich auf die Gespräche mit Gästen, die nach Herrnhut kommen.“ Rund 6000 Einwohner zählt die Gemeinde heute – davon etwa ein Viertel im eigentlichen Ort Herrnhut.
Im Völkerkundemuseum der Stadt läuft bis 27. November eine Sonderausstellung. Sie zeigt Exponate aus dem Alltagsleben der Herrnhuter sowie ihre Musikinstrumente und Gesangsbücher. Viel weniger alltäglich sind die Objekte, die die Missionare der Herrnhuter Brüder-Unität seit 1732 von ihren Reisen zu verschiedenen Völkern mitbrachten. Der Kajak der Inuit aus Grönland gehört zu den bedeutendsten Stücken.
Aus der regen Missionstätigkeit der Herrnhuter Brüder entwickelten sich die heutigen Standorte der Gemeinschaft in aller Welt. Die internationale Brüder-Vereinigung verzeichnet mittlerweile mehr als eine Million Mitglieder. Davon leben nur rund 5600 Brüder und Schwestern in Deutschland – und etwa 550 in Herrnhut. Ein großes Plakat in der Ausstellung zeigt die Brüdergemeinen auf den fünf Kontinenten.
Bewerbung als Welterbe
Gemeinsam mit der Brüdergemeine im US-Bundesstaat Pennsylvania und der dortigen Herrnhuter-Siedlung Bethlehem will sich die Stadt in ihrem Jubiläumsjahr um die Auszeichnung als Unesco-Weltkulturerbe bewerben. Bethlehem ist heute mit rund 75 000 Einwohnern eine mittelgroße Stadt. Gegründet wurde sie an Heiligabend 1741 von Graf Zinzendorf als Hauptort der Herrnhuter Brüdergemeine in Nordamerika.